terminetexterepertoireechovitakontaktstartseite  

 

michael herrschel:
auflösung. nach lukrez

 

1

Liebe! Begehren!
Seefahrt, rettungslos
im entfesselten Glück…

Hier und immer jetzt
von Blitz zu Donner im
Ungewissen zu tanzen…

Im selig lachenden, alle
verfluchten heiligen Ängste
verzehrenden Wetter!

Im Niederprasseln
erloschener Sterne:
haltlos rasend…

Über aufgerissene Schlünde
Leben speiender Ozeane,
Felsklippen und Wolkenriffe…

Im Sonnenfeuer hellwach:
ein jähes Atem-Stocken.
Herzmuskeldurchrüttung.

Reißend. Pulsend. Schleudernd.
Alles, alles durch euch:
Liebe und Begehren!

Verbündet euch mit mir
wenn ich hier schreibe:
Vers – für – Vers.


2

Himmel und Erde und
was wir darin erkennen
und alles darüber hinaus –

Alles hat sich geformt.
Aufgebaut aus zarten
hauchfeinen Teilen:

In leeren Luft-Räumen
auf Zeit aneinander gefügt,
aber von keiner Hand.

Und nach einer Zeit
wieder getrennt, und
wieder von keiner Hand.

Umsonst warten wir auf
Nachricht von höheren Wesen.
Gottheiten oder Dämonen.

Wenn es sie gibt, bleiben sie
lieber unter sich: in wortreich
ausgedachten Weiten.

Hausen ungreifbar fern
in raumtiefen Höhlen
zwischen unseren Welten.

Ohne zu fühlen.
Ohne zu hören.
Ohne wirksam zu sein.

Was droht uns? Nichts
als Aberglaube. Fromme
rauchduftende Betörung.

Ergebung in knechtische
Fieberträume. Aus Furcht
und immer nur Furcht:

Die dem Tod voraus eilende
Zerfleischung des eigenen
blühenden Lebens.

Hört auf damit, euch selber
zu schlachten auf den Altären
der Geisterschatten.

Enthüllt das Gaukelspiel
das mehr als ein Spiel
zu sein begehrt.

Achtet auf die fromme Scheu
die euch durchzuckt,
eure Herzen zerknirscht:

die Angst vor etwas
das nie da war. Aber
übermächtig aufscheint.

Hütet euch vor dem
süßen Schlaftrunk
der bittere Träume gebiert.

Hütet euch, zu sterben
ehe ihr lebt. Hütet euch
vor der Religion.


3

Ich kenne sie persönlich.
Halb Zufall und halb Neugier
lockten mich in ihre Nähe.

Eines Nachts im Sommer:
Auf dem Heimweg suchte ich.
Und wusste nicht was.

Ich weigerte mich müde zu sein.
Glitt aus. Prellte mich. Fluchte.
Tastete beschämt um mich.

Da packte mich wer. Zog mich
hoch. Klopfte mir den Dreck ab.
Lachte und sagte: Du bist gerettet!

Fasste mich unsanft am Kinn.
Drehte meinen Kopf nach oben.
Gab mir ein Schauspiel zu sehen:

Das weit geblähte tiefschwarze
Himmelszelt bekam Risse. Messer
von Licht sausten ritzend nieder.

Man wisperte mir ins Ohr:
Was für glückliche Zeichen!
Du glaubst es doch auch. Oder?

Ich fügte mich der Erwartung.
War ja nicht allein. Die Luft
flirrte. Es lauerten Augen.

Nachlässig verwechselte ich
ihre Gier mit meiner eigenen.
Begann zu reden. War durstig.

Sie gaben mir zu trinken.
Ich dankte. Und ein starkes
Kraut schläferte mich ein. –

Am nächsten Morgen wollten sie
alles von mir wissen. Umlagerten
mein Bett. Zupften an der Decke.

Steh auf! Du gehörst jetzt zu uns
und musst sagen, was du heute
vorhast. Wegen des Orakels!

Welches Orakels? fragte ich
und fasste nach meinen Kleidern.
Ich war nackt. Alle glotzten:

Wie? Du kennst kein Orakel?
Nein, sagte ich. Ihr könnt es
mir ja zeigen, wenn ihr wollt.

Ich fühlte ein Stechen im Hirn.
Nein. Ich musste weg hier.
Ich suchte nach dem Ausgang.

Sie vertraten mir den Weg.
Wolltest du es nicht ansehen?
Na dann komm mit. Komm!

Sie führten mich in einen
Hinterhof. Da war ein Käfig
mit schneeweißen Tauben.

Ich musste hinein greifen.
Eine zu fassen bekommen.
Herausheben. Au! Sie pickte.

Zappelte. Kackte auf meine Hand.
Ich hörte: Gut! Lass los! Pass auf,
ob sie hierhin oder dorthin flattert.

Die Himmlischen lenken den Flug.
Sie allein fällen die Entscheidung,
ob du tun darfst, was du tun willst.

Ich ließ den Taube fliegen.
Es war mir egal, wohin.
Ich wischte die Hand ab.

Für den Anfang war das
ganz gut, sagten sie. Wir
werden dich weiter belehren.

 

 

4

 

Sie hielten mein Verstummen
für ein Merkmal göttlicher
Begabung und Erwählung.

In deiner Stimme, sagten sie,
stauen sich Kräfte, die bald
zum Ausbruch gelangen.

Die dein Wesen verändern.
Die das Unbedeutende,
das du bist, empor heben.

Die das erbärmliche Nichts,
das du warst, verwandeln
in ein formbares Etwas.

Die dich erwecken zum
eigentlichen Leben. Die dich
vom niederen Dasein befreien.

Die das Vergangene austilgen
und gar nichts übrig lassen von
deiner vorigen Gewöhnlichkeit.

Gewöhnlichkeit? Ihr wollt mich
wohl beleidigen? Was fällt euch
ein? Wie redet ihr denn mit mir?

Was wisst ihr von meinem Leben?
Von dem was ich war und bin und
sein will? Was ich erfahren habe?

Was wisst ihr von den Wegen,
die ich gegangen bin? Seht auf
die Narben an meinen Sohlen!

Was tretet ihr hier auf der Stelle
mit geputzten Schuhen und sagt:
Ihr kennt die Welt? Mehr noch:

Seid verbunden mit überirdischen
Mächten? Angenommen, ihr wärt
so etwas wie deren Werkzeug:

Wie würdet ihr zu Werke gehen
an mir? Wolltet ihr als Griffel
eure Zeichen auf mich kritzeln?

Lasst es! Ich bin keine Wachstafel.
Bin verletzliche lebende Materie.
Meine Haut rührt ihr nicht an.

Ärgert euch das? Ich sehe, wie
etwas Messerhartes in euren
Blicken ungeduldig zittert.

Das ist frech. Ihr zielt auf mein
Herz. He! Was soll das? Warum
wollt ihr töten für eure Idee?

Und aus den Überresten etwas leimen,
gemäß irgend einem Plan, von dem
ihr euch und allen etwas versprecht?

Das ist doch nichts weiter als
Vermessenheit. Wie kommt ihr
dazu? Bitte: Erklärt mir das.

Wie bitte? Ihr sagt: ich soll besser
meinen Mund halten? oder ich
soll gehen? Meint ihr das ernst?

Oh ja. Ihr bringt mich zum Ausgang.
Ungerührt. Seltsame Gesellschaft!
Bin froh, sie hinter mir zu lassen.

Bin schon in der Tür. Atme die
frische Luft. Und höre in meinem
Rücken ein Wispern. Ein Kichern.

Ein schneidendes Flüstern: So schade
um dich. Du bist so dumm. Du weißt
ja gar nicht, was dir alles entgeht!

 

- Fortsetzung folgt -

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

  

terminetexterepertoireechovitakontaktstartseite