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michael herrschel:
cave cave dominus videt
1
Hörst du das
Diese Stimmen
Sie dringen aus dem Gemälde
aus der Tiefe
aus dem schwarzen Grund
Siehst du sie
Helle
zitternde Pinselstriche
Das sind Münder
Ein ängstlich
flüsterndes Volk
Ein Schwarm von
hungernden Gesichtern
gemalt
um die Träume
eines Königs
zu verwirren
Ein König streckte einst
seine Hand aus
nach dem Bild
Er wollte es haben
Er kaufte es
Und es kam zu ihm
in Leinen gewickelt und
weich auf Stroh gebettet
So kam es ins
hispanische Land
und
Mein ist es
Mein
rief der König
Ich will davor
meine Buße tun
Ihr Diener
enthüllt mir das Bild
Wehe
Nein
Was seh ich
Verlorene Seelen
Irrlichter
Hilf Gott
So schrie er
Hilfe
Hilfe
2
Der König
ist fortgegangen
Soldaten zogen
durch seinen Palast
Sie griffen sein Bild
Sie haben es
in die Hauptstadt geholt
Zornig inmitten der Leinwand
funkelt ein gewaltiges
fremdes Auge
Cave
Schicht um Schicht
löst sich
von der Zeit
Langsam
kreisend
erscheint
eine Schrift
Conscientiam sentio
et superbiam
fontem omnium facinorum
Die Wurzel allen Übels
heißt Hochmut
3
Da
Sie kommen heraus
aus dem Dunkel
hinauf in die Mitte
des Bildes
Viele Leute
beugen sich
über ein
glitzerndes Wasser
Sie stürzen und
ertrinken in ihrem
eigenen Spiegelbild
Auch ich
trete näher
beuge mich
über das Wasser
Ja
Es ist schön
mein Bild
Ja
Nein
Ich will sein wie
die anderen
Aber in meinem Kopf
da pocht wieder
die Schrift
Gens absque consilio est
et sine prudentia
Diesem Volk fehlt es an Rat
es mangelt ihm an Verstand
Cave cave
Dominus videt
Cave
Hüte dich
4
Diese Gestalten
Sind es Tiere
Sind es Menschen
Sie winden sich
aus den Buchstaben
der Schrift heraus
Sie bluten
Sie zittern
Löwen fletschen
ihre Zähne
Schakale erheben
ihre Köpfe und
lauern stumm
Hüte dich
Der Herr sieht
Aber w e l c h e r Herr
5
Ich will die Schrift lesen
frei von der Anmaßung
der Herrschenden
frei von der Scham
der Unterworfenen
Frei
frei
6
Ein Rauschen
von Flügeln
Zornige Schnäbel
hacken in die Luft
näher und näher
Cave
Dominus videt
Auf
Komm
Lass uns fliehen
Mit dem Wort
der Verheißung
auf den Lippen
dem Wort
das ich suche
aber mir
schwinden die Sinne
eine fremde Kraft
ich spüre sie
ganz nah
7
Träumend gleiten wir
durch einen Schacht
Schwaches graues
Licht umhüllt uns
Aus der Ferne dringt
ein fremder Gesang
Wir schweben
Der Atem
geht schneller
Uns umgreift
ein Morgenwind
der die Angst
verscheucht
Die Schatten zergehen
wir sind wie geblendet
Meine Hände greifen
ins Nichts
in die Wolken
ins Feuer
Et nunc
per speculorum specula
migramus
Durch andere Räume
wandern wir
und blicken
in den spiegelhellen
Grund der Welt
Ex oriente lux
Leben
Ja
Leben will ich
im Licht dieses Morgens
me semper aspicit
me rogat
me vocat
Aufblühen will ich
Cruda
ein Segen sein
cruda
est vita mea
an jedem
neuen Tag
des Lebens
copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)
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