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michael herrschel:
sabelita-szenen

 

personen:

POESIE Mezzosopran

REGIE Mezzosopran

LYRISCHE Sopran

SOUBRETTE Sopran

DRAMATISCHE Sopran

TENOR

DER ALTE Bassbariton

KULISSE Sprechstimme

 

 

ERSTER AKT

 

1

prolog. am saum der träume

 

 

KULISSE
Zeichen, ins Nichts geritzt.
Kreideblitze, weit verzweigt.
Weißes Flammengeäst greift in den Raum:
und überall Blendung und Schatten.
Überall die Stimme. Ihre Feuerlippen
zaubern Gestalten, die wetteifern. Katzbalgen.
Und eine dazwischen, die anders ist.
Eine, die zu niemandem gehört.

 

(Verlassener Platz, von Pflanzen überwuchert. Abendsonne. Kleider und Requisiten liegen verstreut. An der Rampe schläft auf der einen Seite die Regie, auf der anderen hockt die Poesie im Schneidersitz)

POESIE
Mein Herz schlägt bis zum Hals.
Meine Wangen glühen.
Jetzt ist die Stunde:
Die Luft wird bunt.
Aus der Tiefe klingt’s
und braust’s.
Es rührt seine Flügel,
flieht hinauf in die Wolken:
Mein Lied, mein wilder Vogel,
fliegt aus mir fort!
Ich bin das Licht,
bin der Duft,
bin die Stimme des Abends.
Ich fühle euch atmen
in meiner Kehle,
euch drängen
hinter der Stirn:
Ihr seid – so viele Personen!
Ihr flüstert, ihr zittert.
Ah! Macht euch los!
In Schwärmen treibt ins Freie,
entspringt – aus meinem Kopf!


(Im Hintergrund wird das Ende einer Leiter sichtbar. Stimmen aus der Tiefe)

LYRISCHE (singt unsichtbar eine Vokalise)

DRAMATISCHE (klettert auf die Bühne)
Ah! Am Ziel! Endlich am Ziel.
So lange gekämpft. So viel entbehrt.

LYRISCHE (klettert ihr nach)
Warte! Mir wird schwindlig. Im Kopf dreht sich alles.

DRAMATISCHE (ins Publikum)
Und jetzt steh ich hier vor euch!

SOUBRETTE (noch unsichtbar)
Hilfe! Ich kann nicht mehr weiter!
Helft mir hinauf!

LYRISCHE (zur Dramatischen)
Hörst du das? Da ruft eine!

DRAMATISCHE
Ich höre Beifall rauschen.

Fühle die Scheinwerferglut!

LYRISCHE (beugt sich mit ausgestreckten Händen über die Leiter)
Du da: Halt dich fest!

SOUBRETTE
Ich rutsche aus!

LYRISCHE
Nimm meine Hand!

SOUBRETTE
Meine Finger bluten.
Die Leiter bricht!

DRAMATISCHE
Sie stürzen ab. Meine Güte, wie peinlich!

LYRISCHE (gleichzeitig)
Halt dich fest! An mir!
(zieht sie hoch)

POESIE (gähnt)
Willkommen am Saum der Träume…

SOUBRETTE (klettert auf die Bühne)
Wahnsinn. Ich hätte tot sein können.
Hörst du? Für immer tot!

LYRISCHE
Hier oben sind wir frei.

DRAMATISCHE (einfallend)
Hier seid ihr in meinem Reich!

POESIE (reckt und streckt sich)
Willkommen im Licht des Abends.

DRAMATISCHE (wühlt am Boden)
Schaut! Alles gehört mir! Mir allein!

SOUBRETTE
Was hast du da?

LYRISCHE
Die Steine. Wie sie blinken.

SOUBRETTE
Eine Krone!

DRAMATISCHE

Und so leicht!

(setzt sie auf: plötzlich ist sie schwer)

Ha!

Ich bin die Königin!


SOUBRETTE
Ich gehorche dir!

(singt eine Vokalise)

LYRISCHE (gleichzeitig)

Da liegt eine Rassel.

Eine Trillerpfeife.

DRAMATISCHE (zur Lyrischen)
Ihr müsst mir gehorchen!

POESIE
Leg ab die Krone.
Sie bricht dir das Genick.

DRAMATISCHE (gleichzeitig zur Lyrischen)
Was ist los?
Schau mich an!

SOUBRETTE
Hörst du nicht?

LYRISCHE (spielt mit Rassel und Pfeife)

Lasst mich! Ich will nicht.

DRAMATISCHE (lacht)

 

SOUBRETTE
Du bist verrückt!

POESIE
Ich fühle den Tod.
Mein letztes Zucken
im Feuer der Sonne,
in sterbender Glut.

DRAMATISCHE (gleichzeitig zur Soubrette)
Nimm ihr das weg!
Pack sie, die Freche!

SOUBRETTE (drückt die Lyrische auf den Boden)
Du! Verbeug dich vor der Krone!

LYRISCHE (schreit)
Au! Verräterin! Ich hab dich gerettet!

DRAMATISCHE

Lüge! Das war ich!

Ich bin die Retterin!

SOUBRETTE (stößt die Lyrische weg)

Ich danke der Königin!

LYRISCHE (kriecht zur Poesie)
Hilf mir! Beschütz mich! Du!

POESIE
Zu spät. Ich gleite davon.

LYRISCHE
Nein! Warum?

POESIE (sinkt in Schlaf)
Das Dunkel verschlingt mich.

LYRISCHE (hält sich an ihr fest)
Bitte bleib!

SOUBRETTE (zur Dramatischen)
Du musst mich belohnen.

DRAMATISCHE
Belohnen? Wofür?

SOUBRETTE
Lass uns tauschen.
(greift nach der Krone: sie ist leicht)
Ich will sein wie du.

DRAMATISCHE
Das wagst du nicht!

SOUBRETTE (hat die Krone aufgesetzt)
Schau! Sie steht mir!

DRAMATISCHE (gleichzeitig)
Gib sie zurück! Sie ist meine! Meine!

SOUBRETTE
Schweig! Auf die Knie!

DRAMATISCHE
Niemals! Nein!

SOUBRETTE
Doch!

DRAMATISCHE
Nein!

SOUBRETTE
Doch!

(Handgemenge. Die Krone entgleitet ihnen, fällt ins Dunkel. Donnergrollen. Der Boden zittert)

POESIE (aus dem Schlaf gerissen)
Zerstreut, verirrt, verloren.
Schatten steigen auf.

DRAMATISCHE (einfallend)
Die Erde bebt.

SOUBRETTE
In der Tiefe rumort’s.

DRAMATISCHE
Du bist schuld!

SOUBRETTE
Nein, du!

 

DRAMATISCHE
Still!
(polyrhythmisches Klappergeräusch)
Was ist das?

 

POESIE
Ein Reiter: flüchtig im Wind.

SOUBRETTE
Ein Reiter!

DRAMATISCHE
Ein Reiter? Von wo?

POESIE
Ein Traumbild.
Geformt vom Rauch
aus meiner letzten Glut…

LYRISCHE (zur Poesie)
Bleib hier. Wo willst du hin?

REGIE (öffnet an der Rampe die Augen)
In ein anderes Land.

POESIE
Abend neigt sich,
schließt meine Augen.
Die Fackel sinkt
und verlischt…
(schläft ein. Klappergeräusch wird stärker)

REGIE
Silbergesicht, lauf! Lauf und sing!

TENOR (reitet fern vorüber, marionettenhaft)

Den Strom hinab
komm ich gezogen,
dich zu beschwören
in bleicher Nacht:
Hör meine Stimme,
lass dich berücken
von meinem Lied, o Schöne!

DRAMATISCHE
O Schöne?

SOUBRETTE
O Schöne?

REGIE (seufzt)
Jede Mondnacht dieselbe alte Geschichte.
Aus immer neuen Mündern.
Süßes Geschnatter.

DRAMATISCHE (einfallend)
Er meint mich!

SOUBRETTE
Nein, mich!

LYRISCHE
Oder mich?

REGIE
Ich zieh die Fäden. Bewegt euch!

SOUBRETTE
Habt ihr sein Gesicht gesehen?

LYRISCHE
Es war silbern!

REGIE
Zankt euch um ihn! Los!

SOUBRETTE (einfallend)
Ich will ihn haben! Er gehört mir!

DRAMATISCHE (einfallend)
Nein, mir! Wo ist er?

LYRISCHE (zur Regie)
Wo ist er? Zeig uns den Weg!

REGIE (wirft ihr eine zerfetzte Karte hin)
Hier der Plan!

SOUBRETTE
Gib her!

LYRISCHE (wehrt sich)
He!

DRAMATISCHE (reißt den Plan an sich)
Gib her!


REGIE (gleichzeitig)
Zerfleischt euch! Kämpft!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE
Ich weiß bescheid! Lass los! Ich bin schneller.
Ich bin besser. Ich! Nein: Ich! Ich!

REGIE (gleichzeitig)
Ja! Mehr Stolz! Mehr Feuer!

SOUBRETTE
Hilfe! Der Boden schwankt.

DRAMATISCHE
Wir purzeln in die Luft!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE
Wir fliegen! Fliegen!

Kopfüber hinaus in die Welt!

(beide ab)

REGIE (gleichzeitig zur Lyrischen)
Willst du hier sitzen bleiben?
Hör, was ich dir sage:
(berührt sie)
Dein Name ist Sabelita.

Du bist Sabelita. Es ist beschlossen.

LYRISCHE
Beschlossen von wem?

REGIE (deutet auf die Poesie)
Von ihr, die da liegt und von dir träumt.

LYRISCHE
Ist sie tot?

REGIE (legt ihre Arme um die Lyrische)
Wenn sie aufwacht, hängt sie sich an dich.
Wenn sie mit ihren Kraken-Armen
dich umschlingt: Entwinde dich!
Ich zeige dir, wie du leben wirst.

LYRISCHE (gleichzeitig)
Was habt ihr vor? Was wollt ihr von mir?
Mich ersticken? Wem soll ich glauben?
Wem vertrauen? Dir? Oder dir?
Ich glaube, keiner von euch!

POESIE (gleichzeitig im Schlaf)
Ich lass euch nicht los. Meine Augen
sind wach in jeder neuen Gestalt.
Ich richte mich auf. An der Straße.
Bin kälter als der Mond.

Sie verwandelt sich in eine Laterne. Die anderen ab

 

 

2

laternenpredigt

 

KULISSE
Hilflose Poesie! Deine Kinder haben Beine.
Laufen dir weg. Unter den Augen vorbei!

 

POESIE (wacht auf)
Wo seid ihr? Lasst mich hier allein? Undankbare Gören. Habt ihr so schnell vergessen? Ich, nicht die Andre: Ich war es, die euch schuf!

(reckt sich)

So dunkel hier. Ich muss aufstehen. Licht machen.

(zuckt mit dem Kopf, unsichtbaren Insekten ausweichend)

Das lockt euch an. Ihr umkreist mich. Pah! Ich spuck euch aus. Schlag euch in die Flucht.

(kräftiger flackernd)

Ihr seid flatterhaft, und ich kann mich nicht rühren, kann hier nicht weg! Ich hör was. Ein Lärmen. Schritte. Gerade auf mich zu. Nein, ich zucke nicht!

(in voller Glut)

Kommt nur her! Verbrennt euch an mir, ihr alle. Rennt euch die Köpfe ein an meinem Leib. Kommt her, durch die Gassen, durch die Nacht. Ja, kommt nur her vor das Auge des Gesetzes! Ich lass euch nicht vorbei. Ich bleibe hart. Hab jetzt ein Herz aus Eisen!

(richtet sich auf, starr und lauernd)

 

 

3

festnahme

 

KULISSE
Nichts existiert, bevor wir selber auftreten.
Die Bretter unter den Füßen fühlen.
Bevor wir schreien: Revolution!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (aufs Stichwort einfallend)

Revolution! Wir sind das Neue! Wir!
Auf allen Bühnen der Welt!

LYRISCHE (gleichzeitig)
Revolution! Gewitter im Hirn: Wir?
Wer ist das? Wer ist Wir? Wer?

REGIE (einfallend)
Schreit nicht so laut!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (lachen)
Aber du hast uns entführt!
(ins Publikum)
Hallo! Wir stören euren Schlaf!

LYRISCHE (gleichzeitig)
Au! An mir ziehen Fäden.
Hierhin, dorthin. Es tut weh!

POESIE (stampft auf. Es klirrt: ein vielfüßiger Apparat setzt sich in Bewegung)

REGIE
Geht in Deckung!

POESIE (stampft heftig auf. Geklirr näher und stärker)

LYRISCHE, SOUBRETTE & DRAMATISCHE
Eiserner Drache zertrampelt uns!
Faucht und verbrennt uns zu Schlacke!

REGIE (bricht unterm Prasseln eiserner Schritte zusammen)
Ja doch! Ja!
Ruf mich zur Ordnung! Wie jede Nacht.

LYRISCHE, SOUBRETTE & DRAMATISCHE (gleichzeitig)
Wir sind gelähmt!
Bis in die Fingerspitzen gelähmt!

REGIE (streckt die Arme vor)
Fessle mich! Schnell!
(Sie wird von unsichtbaren Händen hochgerissen und fortgeschleift)

LYRISCHE, SOUBRETTE & DRAMATISCHE (gleichzeitig)
Wir müssen ihr nach!
(können sich wieder bewegen, stolpern durcheinander)

SOUBRETTE, DRAMATISCHE (stoßen die Lyrische weg)
Aber ohne die da!
(beide ab)

POESIE (nähert sich der Lyrischen)

LYRISCHE
Wo ist sie hin?
Sie hat mich Sabelita genannt.
Das ist mein Name.
Wie soll ich darin leben?
Die Erinnerung
ist so körperlos und fremd.

POESIE (gleichzeitig)
Du liebst sie.
Sie, die ich liebe und hasse.
Sie will zu viel.
Du sollst sie vergessen.
Meine Gedanken
lassen dich unsterblich sein.

LYRISCHE
Bring mich zu ihr.

POESIE berührt sie

LYRISCHE wird unsichtbar

 

 

4

die kerkerwand

 

KULISSE
Mit Fingern des Lichts tastet sie sich voran.
Mit Regentropfen kriecht sie in den Strohsack.
Mit Ohren in den feuchten Wänden
belauscht sie jeden deiner Atemzüge.


REGIE

Die Andere? Wer soll das sein? Ich selbst? Hier eingeschlossen. Von wem?

Ich fühle deine Augen. Laterne, was willst du? Bist du’s, die mich gefangen hält?

(steht auf, spürt einen heftigen Schmerz)

Ah! An einer Kette, wie kann das sein?

(reißt an der Kette, die sich straff spannt)

Ich, ich führe hier Regie! Es kann – und darf doch nichts geschehen ohne meinen Willen!


POESIE (im Schatten)

Und nichts ohne mein Wort.


REGIE

Wie? Ich versteh dich nicht.


POESIE

Du willst in Wahrheit gehorsam sein.


REGIE

Nein! Verschwinde. Von überall schaust du in mein Gesicht, auf meine Finger und Füße.


POESIE (kommt näher)


REGIE

Katzenhaft umschmeichelst du mich. Was nützt dir das? Mitgefangen, eingekerkert in jeder schönen Täuschung, die du ersinnst, hungerst du wie ich nach der Freiheit.

(schaut der Poesie ins Gesicht)

Was weißt du von meiner Kraft? Von dem Schatz, den mein Kopf hütet?


POESIE (berührt den Kopf der Regie, nimmt ihn zwischen die Hände)


REGIE

Schau her: Dieser Kerker öffnet sich. Die Mauer wird durchsichtig. Ich schlag sie auf: ein gläsernes Buch. Ohne Schrift, nur Bewegung, nur flüchtiges Jetzt. Jetzt!

(zittert)

Eine ganze Welt voll ungestillter Sehnsucht. Es dunkelt über dem Garten. Die Blumen, sie atmen, umhüllt von meiner Nacht.


POESIE

Halt. Halt!


REGIE

Ein Zittern am Himmel – verbirg dich, Sabelita!


POESIE

Halt! Halt, halt!


REGIE

Über dir kreist ein Adler. Er hat dich ausgespäht, stößt nieder, verirrt sich zwischen den Wolken.


POESIE

Das ist  m e i n e  Geschichte!


REGIE

Nein! Lass mich. Lass mich zu ihr!

(reißt an der Kette)

Ah! Ich kann nicht. Die Mauer aus Glas: Ich muss sie zerbrechen, und wenn ich verblute dabei…


POESIE (huscht fort)

 

 

5

auf und davon

KULISSE
Zerschnittene Hand macht Sabelita ein Zeichen.
Rede! Erzähl, was du weißt.

LYRISCHE
Gefangen war ich.
Da war ein Mann. Ich starb
und wachte auf im Grab.

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (sirenenhaft)
Sabelita…! Sabelita…!

REGIE (gleichzeitig, von ihrem Kerkerplatz aus)
Sabelita, du lebst!
Beweg dich. Dass ich dich sehe!

 

LYRISCHE
Da war Gesang.
Und eine strenge Hüterin.

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (gleichzeitig)
Da ist sie. Im Garten. Im giftigen Grün!

Ihre Füße berühren den Tau auf den Halmen.

REGIE (gleichzeitig)

Stimm deine Klage an, Sabelita:

Was hast du gesehen? Was hast du erlebt?

LYRISCHE (wacht auf)
Ich – weiß nichts mehr.

SOUBRETTE & DRAMATISCHE
Du schlechte Lügnerin!

REGIE
Ausgerissen bist du als Kind.

LYRISCHE
Nein!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (gleichzeitig)
Vor blutigen Schlägen.

REGIE (attacca)
Geflohen in ein Kloster.

LYRISCHE
Nein!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (gleichzeitig)
Hinter Mauern, die dich erstickten.

LYRISCHE (stößt eine lange zornige Vokalise aus)
Ah!

REGIE (einfallend)
Da flohst du wieder.

DRAMATISCHE (einfallend)
Und wurdest wieder gepackt:

SOUBRETTE & DRAMATISCHE
Von Wolfszähnen und Adlerkrallen!

TENOR (unsichtbar)
Rette dich, Sabelita! Die Nacht verstreicht.

LYRISCHE
Hilfe! Wer ruft mich?

REGIE
Der Sohn des Adlers.

LYRISCHE (einfallend)
Des Adlers?

REGIE
Sohn des Wolfes.

LYRISCHE
Des Wolfes?

TENOR (einfallend)
Des Wolfes, der dich begehrte.

LYRISCHE
Mich friert.

SOUBRETTE, DRAMATISCHE & REGIE (einfallend)
Sieh die Zypressenbäume, und hinter den Hügeln das Meer!

TENOR (steht vor ihr)
Sabelita! Lass uns fliehen!

LYRISCHE (einfallend)
Silbergesicht?

REGIE
Wunder der Nacht, sterbliches Glück!
So fremd für Blume und Baum:
Frei sein, davongehen, auf und davon!

 

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (gleichzeitig)
Wunder der Nacht? Ungerechte Regie!
Uns Blumen drückst du in die Erde.
Und sie geht fort mit dem Ritter, auf und davon!


LYRISCHE (zum Tenor, der sie am Arm fasst)
Wo willst du hin?

POESIE (aus dem Nichts)
Wartet! Ich führe euch!

REGIE
Nein,  i c h  führe euch!

POESIE
Du? Mit deiner blutenden Hand?

REGIE (einfallend)
Ja, mit meiner blutenden Hand!

TENOR
Die Nacht ist hell. Die Sterne leuchten:
so klar wie unsere Liebe. Wir sind frei.

LYRISCHE (gleichzeitig)
Die Nacht ist kalt wie deine Augen.
Jagt uns dieselbe Gewalt? Derselbe Tod?

SOUBRETTE, DRAMATISCHE & REGIE (einfallend)
Ihr seid frei, Sabelita! Ihr seid frei! Frei!

POESIE (gleichzeitig)
Warte, Sabelita! Du gehörst mir!

 

 

6

rattenverse

REGIE (stammelnd)

Du bist frei, bist frei: Hörst du mich? Ich blute nicht mehr.

Ich war draußen. Einen Augenblick in deiner Welt.

Und greife nach deinem Namen: S-sa-be…

(kopfschüttelnd)

Nein.

(versucht die Hände zu bewegen)

Wie ein Stück Holz im Wasser. Meine Finger gleiten ab.

Ich will nicht ertrinken in dieser Nacht, wo ich hilflos nach Luft schnappe.

(horcht)

Die schlaue Ratte sitzt auf einer anderen Planke. Ihr feiner Ton bringt mich in Rage.


POESIE (nähert sich als Schatten)


REGIE  Ich muss weg hier. Schnell weg hier.

(zur Poesie)

Komm her! Löse, was mich in die Tiefe reißt. Die Ketten, löse sie!


POESIE (berührt die Ketten, ohne sie zu lösen)

 

 

7

stimmen im gehölz

 

KULISSE
Zwei Schatten in einer finsteren Gasse
suchen jenseits des Gartens
ein Leben, dem niemand Befehle erteilt.

 

TENOR
Wo bist du, Sabelita? Ich sehe den Weg nicht mehr.

LYRISCHE (gleichzeitig)
Au! Du trittst mich auf die Fersen. Pass doch auf!

TENOR
Ich habe mich verliebt in deine Stimme.
Sabelita, verzeih mir die Blindheit.
Liebst du mich auch? Schau mich an!

LYRISCHE (gleichzeitig)
Ich laufe dir voraus. Du schwitzendes Kind.
Silbergesicht, du bist unerträglich.
Aus der Ferne warst du so schön.

REGIE
Umarmt euch! Fester. Noch fester!
Küsst euch. Auf den Mund!

POESIE (gleichzeitig)
Reiß dich los von ihm, Sabelita!
Ich kann das nicht mit ansehen!

LYRISCHE
Lass! Deine Küsse sind so überschwemmend.
Viel zu feucht. Viel zu schwer. Viel zu breit.
Oh! Du zielst gar nicht richtig. Du schwankst.
Und wie du riechst. Pack die Flasche weg.
Was willst du? Mich übergießen? Anzünden?
Lass es. Komm! Wir müssen weiter.

TENOR (gleichzeitig)
Bleib! Ich küsse dich. Sauge dir die Stimme
aus dem Leib. Dem Fleisch gewordenen Traum.
Ich schmücke mich mit deiner Kraft:
unverwundbar, wenn der Alte uns jagt!
Ich werde die Waffe ziehen. So! Gegen ihn.
Siehst du? So: Ich werde siegen!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (schnell)
Silbergesicht! Siehst du den Wolf?
Hörst du sein Heulen?
Spürst du sein Maul?

TENOR
Hilfe! Mein Vater!

Wir sind verraten!

LYRISCHE (einfallend)
Lauf doch! Lauf!

TENOR (geht in die Knie)
Ich falle!

LYRISCHE (einfallend)
Nein! Ich fass es nicht!
(umarmt ihn und erstarrt mit ihm)

 

 

8
morgenlicht

SOUBRETTE
Sie erstarren.

DRAMATISCHE (einfallend)
Sie versinken.

REGIE
Hilfe!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE
Regie! Wo bist du?

REGIE
Macht mich los! Ah!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (finden sie)
Hier liegt sie. Sie braucht Hilfe!

POESIE
Rührt sie nicht an!

SOUBRETTE & DRAMATISCHE
Bist du die Wache? Befreie sie!

POESIE (gleichzeitig)
Sie bleibt gebunden. An mich.

SOUBRETTE & DRAMATISCHE (ins Publikum)
Schreit alle! Schreit: Freiheit! Für die Freiheit!
Ohne sie ist alles tot! Tot!

POESIE (einfallend)
Habt ihr Ohren? Hört auf mich!

DRAMATISCHE & SOUBRETTE (schnell)
Auf dich? Wer bist du?

POESIE (einfallend)

Seht, wen ich befreie! So!
(hebt ihre Hand: Soubrette und Dramatische erstarren, Lyrische und Tenor bewegen sich)


9
ein heimlicher tanz

 

KULISSE
Alles kann sie tun. Alles verwandeln.
Sie hat nur Angst vor dem Entgleiten.
Vor dem, was nie mehr wiederkehrt.
Und wenn es das Liebste ist? Was sich
im fremden Rhythmus bewegt: Was dann?


POESIE
Seht hier die beiden:
Sie fliehen durch die Wälder, die Glücklichen.
Immer weiter und weiter, über Stock und Stein.
Du: ich kann dich sehen. Mein Kind. Ich bin über dir.
Ein schlanker, biegsamer Turm wächst in luftige Höhen:
Da bin ich. Schwanke im Wind. Neige mich tief an dein Ohr.
Ich hör deine Stimme. Oder nein: Es ist die andere!

REGIE
Sabelita, sie alle folgen deinem Weg.

POESIE
Wie? Was redet sie da?

REGIE
Pflanze und Tier.

POESIE
Ja. Ich erschaffe sie!

REGIE
Stern und Windhauch.

POESIE
Ja. Ja! Das alles bin ich selbst!
Für dich, für dich bin ich’s!
Die deine Kinderzeit bewachte: Ich bin’s!

REGIE
Mutter Oberin?

POESIE
Ja. Die jetzt, im leeren Gewölbe, sich sehnt.

REGIE
Umweht von sanften Orgelklängen?

POESIE
Ja. Nein: Nicht sanft. In mir ist Unruhe.
Meine Stimme blutet vor Zorn über Greife und Ritter, die mein Kind entführten.
Ich möchte sie töten, die Verfluchten.
Da: Am Himmel fliegt er dahin, der Alte, der sie mir wegnahm.
Und hier unten seht ihr den Sohn, den Teufel, der sie holte.
(ins Publikum)
Und ihr lasst es geschehn! Das trifft mich ins Herz.
Ihr lasst sie tanzen vor euren Augen. So jung, so frei.
So war ich nie! Und wollt es doch so gerne sein:
Kind, mein Kind: für dich!
(auf Knien tanzend)
Hör mich an! Stille meine Sehnsucht!
Ich habe Angst, so große Angst um dich.
(zur Regie)
Gefangene: Du hast gewonnen.
Spür sie auf. Rette sie, dass ich zu ihr sprechen kann:
Isabel, mein Kind, ich bin hier!
Ich schenke dir Wolken und Himmel und Meer.
Ich will, dass keiner dich festhält.
Komm, ich lass dir Flügel wachsen!

 

(Fortsetzung folgt) 

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

    

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