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michael herrschel:
hagar. die flucht

 

Heute Nacht hat Sarai geträumt
und ihre zitternden Fäuste
geballt und laut geschrien:
Weg! Schafft sie mir weg!
Das geht nicht mehr.
Mit der da unter einem Dach,
das halt ich nicht mehr aus.

Jeden Tag:
Wie die mich ansieht.
Voller Hohn.
Und wie die redet:
Als wäre nicht sie die Magd,
sondern ich!

Bloß weil sie kugelrund war
und Milch aus ihren Brüsten spritzte:
So etwas Gewöhnliches!
Ist das ein Grund,
so frech zu werden gegen mich?

Das Maul muss man ihr stopfen.
Sie fesseln wenn sie schläft.
Und glühende Kohlen
sollen ihr Schmuck sein.
Hilft mir niemand?
Muss ich wohl ganz alleine
hinüber humpeln in die Kammer
und mit der Zange aus dem Ofen
die Glut fischen?

Au! Au!
Sarai erwacht
vom eigenen Schrei.
Fühlt neben sich den Alten.
Der schläft und brummt und lallt
von Sternen und immer mehr Sternen
aus den Schößen seiner Lieben.

Hör auf! Hör auf!
Sarai hält sich die Ohren zu.
Ich kanns nicht mehr hören,
das alte Lied. Kennst du
kein anderes?
Und sie rüttelt ihn
und ruft hinein in seinen
halb verfallenen Gehörgang:

Abram! Gib es zu!
Du hast nur Augen für sie,
für sie, die mich schmäht!

Und er, ganz unwirsch:
Sarai, reg dich nicht auf.
Misch dich nicht in Dinge
die göttlich sind und
dich nichts angehen.

Da wird sie laut und schrill.
Und er fängt an zu zetern
und Sarai zu beschimpfen.
Und sie wehrt sich
und er übertönt sie
und das ganze Haus wird wach.

Und in der Kammer nebenan
wimmert sein Kind.
Sein Kind von der Magd.
Und die packt ihre Sachen,
weil das Leben ihr lieb ist,
und sie sattelt ein Tier,
um augenblicklich zu fliehen
mit ihrem kleinen Wurm
und niemanden zu fragen,
nein! Sondern entschlossen
hindurch zu gehen,
mit der Sturheit eines Pflugs,
gradaus durch das
Getuschel und Geflüster
der andern Bedienten.
An ihren Blicken vorbei
hinaus ins Nichts zu ziehen,
hinaus mit fliegendem Atem,
und auf den Lippen
einen stolzen Gesang:

„Niemand weist mir den Weg!
Niemand schickt mich fort von hier.
Ich gehe von selbst.
Niemand spricht einen
Segen über mich.
Niemand lässt mich kosten
von den Früchten seiner Gnade.
Niemand straft mich mit
Worten der Verstoßung.

Niemand hebt mich empor.
Niemand weissagt über mich.
Niemand macht mich
zu einem großen Volk.
Zwei Leben sind mir genug:
Zu retten. Zu hüten.
Mit List. Geduld.
Scharfen Augen und Ohren.
Ich weiß nicht,
was da draußen wartet.
Weiß nur: Wir wollen
den ersten Tag bestehen.
Und die Nacht kommt bald.“

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

    

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