terminetexterepertoireechovitakontaktstartseite 

 

michael herrschel:
emanation

 

1

nagelbilder

Im Rückenmark sitzt noch
diese grausame Angst
Wir vermuten: aus den
Kindertagen der Welt

Wenn plötzlich ein
Geräusch von irgendwo
Und man weiß nicht
was das bedeutet

Peitschendes Gift
schießt in die Adern
Alle Muskeln gespannt
Weg nichts wie weg

Fluchend hechelnd
wollten wir alles
verbannen was uns
bedroht und jagt

Heimlich machten wir
Skizzen auf Wände
Nachts griffen wir
hinauf ins Firmament

In die leere nackte Höhle
nagelten wir mit harten
blinkenden Stiften wilde
Tiere mit Haut und Haar

Besiegt wachten sie über
dem vergänglichen Wir
Wir: ist eine Vermutung
Kaum Erinnerung

Blick jetzt hoch
Die Tiere sind
nicht mehr da
Ihr Fell ist weg

Nur die Nägel
flimmern als
bleibender Umriss
von Ungeheuern

 

 

2

verstecken

 

Such nach mir
drei Keller tief
in der Enge

Ich wollte nicht
so unvorbereitet
ohne Vorkehrungen

Aber von droben
rollt und wälzt sich
Sirenengeheul
Flammenhitze

Boden und Wände
dröhnen: ich weiß
dass Häuser über mir
zusammen brechen

Ich taste fieberhaft
nach etwas: muss es
an mich nehmen

An einen Platz legen
wo es bleiben kann
bis alles vorbei ist

Ich warte hier
zwinge den Puls
in einen Rhythmus

Der zerflattert
Wäre ich doch droben
bei den Sorglosen

Kriechend zwischen
den Feuergarben den
Segnungen des Himmels

Da lernst du das Lachen
Schrei wenn du springst
Zwei Fußbreit sind es nur

zwischen sicherem Tod
und zufälligem Dunkel
das rasch erhellt wird

Trefft mich nicht

mich nicht ihr

vernichtenden
Freundlichkeiten

 

 

3
komposition

Da lugt ein Finger
oben aus dem Hals

Der kommt aus einem
Bein das hat keinen Fuß

Sondern wächst aus einem
viel gewinkelten Arm

Ellenbögen falten
sich aus der Erde

Das Wesen drüber
wird immer höher

Schwankt im Wind
Mag sich nicht halten

Geknickt niedergestreckt
sehen wir es verhungern

Es hat keinen Mund: Wir
dachten es braucht keinen

Es sollte göttlich sein
Es ist uns misslungen

Also nochmal von vorn
Jetzt etwas Robusteres

Mit Flügeln die es
tragen in der Luft

Mit Silberschuppen
gegen das Wasser

Mit scharfen Klauen
und festen Zähnen

Glänzenden Augen die
wachsen wie Weintrauben

Eins aus dem andern
scharf und wach

Aber es werden
immer mehr Augen

Mehr Zähne Klauen
und Flügel: Hilfe

Es ist uns misslungen
Es rückt uns zu Leibe

Wir haben es gezüchtet
aus purem Vergnügen

und werden es
nicht mehr los

 

 

4
mündung

Verbranntes Fell gerettet
Geflitzt ans Mauerende
Über die Kante hinaus gelugt

Gesprungen ins Leere
Von hinten wälzt sich
ein Gebrüll heran

Ununterbrochenes
Lautsprecher-Röcheln

das Ausrottung fordert
Es zerfetzt mein Gehör

Ich falle durch
stumme Finsternis

Fühle nichts als
die Angst vor
dem Aufprall

Den Sekunden
einer namenlos
heftigen Quälung

Ah: Das brandet
durch alles durch

Ich rolle ich woge
Ich: ohne zu zerschmettern

Just im Schrecken
federnd und wendig

Und hier: endlich nichts
Keine Parole mehr
Oder halt: Verflucht

Vor meiner Nase
etwas Hartes eine
Schnauze aus Metall

Wenn sie spuckt
zerspritzt mein Kopf

Ich winsle
Drück nicht ab bitte

Ich zittre schwitze
Schäme mich so

 

 

5
schrift in den zellen

Das Fleisch
merkt sich so viel

was eingeprägt
lange vor uns

und schlummernd
weiter getragen

von einem Leben
hinüber ins nächste

unsere Schritte und
Gedanken lenkt

mit versiegelten
Anordnungen

die wir nie
überprüfen

bis etwas zum
Vorschein kommt

aus dem Verborgenen
uns dreist entgegentritt

uns mit geerbten
Bildern überfällt

die wir fortschleudern
die sich festklammern

sich mit ungeahnter Kraft
in unsere Sinne beißen

Was bloß lagert da
unentdeckt in uns

Hastig durchblättern
wir Inventarlisten

zünden Licht an
um zu entziffern

flüchtig zu ahnen
aus welchen Zeichen

wir geschrieben sind oder
uns selbst schreiben

im Stoff des Lebens
verflochten mit allem

was sich rührt und regt in
wechselnden Ordnungen

die immer von neuem
sich formieren und

immer neu zerfallen im
Augenblick des Todes

 

 

6
ohne anker

War ich Baum
Wolke Felsen

Tau im Gras
Getreide im
Mahlstein

Raubtier und
jagender Pfeil

Alles das und doch
nicht Ich nicht ganz
nur in feinsten Teilen

ungezählten Punkten
die sich bewegten

sehr sachte von einem
Etwas in ein anderes
und hierher gerieten

sich versammelten
in dieser Gestalt

die in keinem
Augenblick
identisch ist

Vorgeschichten
waren so viele

schwebend oder
ruhend fließend
und versickernd

Hauch in der Luft
Festgefügte Form

Zarte Spur in
einem Blatt in
einem Käferbein

Alles auseinander
Alles neu gefunden

Die halbe Welt
in einem kleinen
brüchigen Fingernagel

oder in diesem Paar
sprechender Lippen

das gestern anders
war und so wenig
von morgen weiß

nur die Umwälzung
der Ozeane ahnt

auf denen das Ich
tanzt ohne irgend
einen Halt zu finden

im Abgrund der
unendlichen Tiefe

 

 

7
fliehender staub

Lange nach dem
Erwachen sahen
wir vor uns einen
sterbenden Stein

im Abendlicht
eine Statue aus
Quarzsand: wie
sie kleiner wurde

der Wind an ihr
nagte und sie
davon trug leise
Korn um Korn

Horch: dieses
Geräusch so
fein so singend
hell und klar

Es zehrt die
gespannten
gemeißelten
Muskeln auf

Es nimmt den
Zorn aus dem
Gesicht lässt
es mild werden

durchscheinend
wie die gläserne
Haut jener Uhren
die im Körnerfall

das Verrinnen
der Zeit messen
bis ihre Kolben
zerspringen und

zersplittern zu
Scherben sich
zerreiben zu
losem Staub

der aufblitzt in
bunten Prismen
und erfasst von
fremder Strömung

weit entfernten
Formen die es
noch nicht gibt
entgegen treibt

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

  

terminetexterepertoireechovitakontaktstartseite