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michael herrschel:
die schwarze feder

 

1

befreiung

Klopfen. Rasseln. Klappern.
Das juckt in den Fingern,
Lärm zu machen. Lärm,
wenn der Name des nach
Ehre hungernden Mörders
ausgerufen wird: Haman.

Der ach so Gütige,
ach so Feige, der seine
Befehle verschleiert:
Sie seien ja nur Wünsche,
die alle gern erfüllen.
Und so behält er seine Hände
sauber. Pfui, Haman.

Dein Tod ist verzeichnet
im Buch der Gerechtigkeit,
die noch nicht eingetreten ist.
In einer Schriftrolle, die ruht
neben anderen in einem Schrein,
der heute Nacht geöffnet wird.
Und das bezeugende Wort
erwacht mit Schrecken.

 

 

2
das buch

In Mäntel gehüllt,
eng aneinander gelehnt:
Wir in dieser
steinernen Kammer.

Geschwister oder
entfernte Verwandte.
Zusammengepfercht.
Geredet wird nichts.

Auf den Kopf drückt
Metall. Meine Haube.
Schwer. Und so feine
Glöckchen hängen dran.

Nur nicht bewegen.
Auch nicht im Schlaf.
Der war lang. Aber jetzt
nähert sich wer. Draußen.

Sind es welche von uns?
Sie summen etwas.
Ich erkenne euer Lied.
Was wollt ihr mir sagen?

Wieder ein Jahr um?
Und war noch keines,
das ohne Sorge, Angst
und Not gewesen wäre.

Ich weiß, was jetzt kommt.
Ihr hebt mich heraus.
Und ich soll reden. Soll
Esthers Stimme wachrufen.

Die gefangen war im Leib
einer Königin. Eingemauert
in einen Palast. Heimlich
sehnte sie sich fort. Hört –

 

 

3
vogelflug

Mit geschlossenen Augen: weit hinaus.
Zu den Schneehängen, wo der Wind
alle Fährten des Lebens wie des Todes
verwischt und verweht, alle Spuren aufwirbelt:
von den Fliehenden wie von denen, die sie jagen.

Und höher hinaus. Höher als ein Pfeil fliegt.
Bis niemand mich mehr sehen kann.
Ich alles abstreife, was mich beschwert.
Den Namen einer gekrönten Sklavin:
Ich will ihn nicht mehr tragen!

Ich will, dass niemand mich erkennt,
wenn ich zurück fliege. Mit kräftigen
Flügelschlägen über Schluchten,
über Ströme und Wasserfälle,
über grünende Wälder:

wo die Seidenbäume ihre Blätter
öffnen und den Regen trinken.
Äste krachen… Wind greift in meine Federn.
Trägt mich über das helle Land,
wo Blumen aus den Kerkern schreien.

Die Stadt ist nah. Jetzt, stolzer Vogel,
sträube dich gegen den Sog der Tiefe,
den Sturz zurück in die Gestalt
einer Ohnmächtigen, gegen
den lähmenden Schmerz!

 

 

4
geflüster

Mühsam steht sie auf.
Setzt Füße auf den Boden.
Friert. Und sucht sich
unsichtbar zu machen.

Wirft ein graues Gewand um.
Senkt ihren Kopf. Sieht aus wie
eine von den buckligen Mägden.

Zu denen gesellt sie sich.
Kniend auf der Schwelle
hört sie das übliche Gerede.
Hecheleien ohne Belang.

Aber halt: Da mengt sich
noch etwas anderes hinein.
Kriecht verstohlen voran.

Kehrt wieder. Das alte tot
geglaubte Gerücht: dass er,
er wieder zum Schlag ausholt,
weil der Neid ihn treibt.

Ich muss wissen, was er plant.
Sagt sie. Und entfernt sich
unbemerkt von den anderen.

Nimmt irgend etwas. Einen
frischen fächelnden Palmwedel,
der hinüber soll in seine Räume.
Den Mägden misstraut ja niemand.

Lächelnd hält sie den Atem an.
Watet über den kotbedeckten Hof.
Hinüber in seine geschlossene Welt.

 

 

5
das orakel

Lauter dressierte Gespenster.
Ich rieche ihre Angst. Wo die
am größten ist, finde ich – ihn.

Er starrt auf sein Gesicht.
Seine Fratze. Verzerrt im
Bronzespiegel. Er schreit:

Ihr müsst mich lieben! Alle!
Die Kraft meiner Liebe fühlen!
Verflucht, wer sich widersetzt!

Er dreht sich um. Nimmt Steine.
Würfelt, um den Tag zu bestimmen,
wo alle bekommen, was sie verdienen.
Und die ihn nicht lieben,
sie verdienen den Tod.

Die Steine fallen. Und er kreischt.
Der Tag ist gefunden: Morgen.
Morgen rücken wir aus mit Macht,
um die Bösen auszurotten,
die meine Liebe verachten!

Er winkt seinen Hauptleuten.
Er grinst. Ich höre ihn flüstern:
Als erstes die eitle Königin.

Als erstes Esther! – Ach:
wenn er wüsste. Ich bin hier
im Raum. Und gleich: draußen.

Lasst meinen Schatten vorbei.
Lasst meinen Mantel in Ruhe.
He: Was wollt ihr von mir?

 

 

6
gitterstäbe

Entblößt steht sie
vor dem Feind.
Der sich weidet
an ihrer Angst.

Er ist aufgeregt.
Gierig. Sie fühlt:
Seine Augen
fressen an mir.

Er will mich
lange foltern.
Er wird nie satt.
Alles kränkt ihn:

Dass es solche
Wesen wie mich
überhaupt gab.
Dass wir lebten

und redeten in
dieser Sprache.
Während er
nur stammelte.

Jetzt schielt er
zu den Eisenstäben
an den Fenstern.
Sie lassen unbefugt

Luft aus und ein
fließen. Und Licht.
Ha! Es blendet ihn.
Es löst mich auf

in meine bloße
Stimme, die sich
von hier entfernt mit
ungebrochenem Klang.

 

 

7
die verwandlung

Ich singe! Singe euch ins Gesicht.
Ihr starrt gelähmt. Könnt nichts tun.
Eure Augen bleiben aufgerissen.
Kein Wimpernschlag zerschneidet mich.
In den Sanduhren rinnt kein Korn.

Die Zeit stirbt. Ich treibe aus der Haut
mein dunkel schimmerndes Gefieder.
Aus Nägeln die Krallen. Aus Lippen
den harten Schnabel. Wie oft
hab ich das im Traum gemacht.

Niemals vor fremden Augen.
Das reut mich bitter: dass ich
mein Geheimnis opfere. Hier.
Vor diesen Schergen. Aber was kann
schlimmer wehtun als der Tod?

Ich bin schon leicht. Und klein.
Verliere noch lästiges Fleisch.
Dränge die luftigen Gebeine
zusammen und flattere. Fliege
durch das Fenster ins Licht.

Ich breite die Schwingen aus.
Stoße aus dem Rachen des Todes
hinauf zum verbotenen Turm:
wo ein anderer sitzt und weiß,
dass niemand ehrlich mit ihm redet.

 

 

8
turmzimmer

Der König schläft
über seinen Papieren.
Ein Rascheln weckt ihn.
Was ist das? Besuch?

Ein Vogel nur. Nicht
angemeldet. Schweigsam.
Mit einem solchen Blick auf ihn –

wie der Vorwurf einer Frau,
die er zu besitzen glaubte.
Und die sich ihm entzieht.
Jetzt grämt ihn sein Hochmut.

Sein leeres Herz. Und seine Hand
unterschreibt Befehle. Von Haman.
Au! Der Vogel pickt nach ihm.

Was soll das? Er zieht die Hand zurück.
Ihm graut vor Haman. Ah! Der ist mir
zu nützlich geworden in seiner Blutgier.
So einen muss ich gewähren lassen.

Sonst geht er mir selber ans Leben.
Ich weiß: Er ist imstande. Besser ist es,
man wirft ihm ein paar Leichen hin…

Der Vogel macht Lärm. Der König
sieht Wachen eindringen. Armbrüste
zielen auf das Tier, das in Todesangst
eine Feder abwirft und sich rettet:

ins Freie hinaus. Und Hamans Leute
schießen hinterher. Schreien wie wild:
Tötet sie! Tötet alle schwarzen Vögel!

 

 

9
alarm

Sie zielen auf Schwärme
am Himmel. Auf dunkle
Punkte, die sich bewegen.

Sie sagen: Diese Vögel
treiben Krieg. Wer sie tötet,
ist ein Held. Ein Sieger!

Unsere Geschosse gehen
niemals zur Neige. Schießt!
Im Namen von Haman! –

Aufgestört und ratlos windet sich
der Mann im Turm. Seine Finger
spielen mit der Feder. Tauchen
den Kiel in Tinte. Sie sind befleckt.
Man hat ihn betrogen um sein Glück:

nie das Geringste zu sehen von Wesen,
die geschlachtet werden. Er springt auf.
Eilt hinunter ins Frauengemach. Ruft:
Wo ist Esther? – Die Mägde schweigen.
Die Toten ruhen. Und nichts, nichts ist gut.

Aber den Lebenden
bleibt als letzte scharfe
Waffe: das Gelächter.

Lacht, wenn ihr lebt!
Und es zeigen sich alle,
wie sie sind. Lacht!

Lacht, wenn der Neid gafft.
Lacht um euer Leben!
Lacht! Lacht über Haman!

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

  

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