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michael herrschel:

fenster ins nadelgebiet

 

1

auge unterwegs

Festgeklebt im Nest auf zwei Beinen:
die Zittermasse der Linse. Vorsichtig
abgestochenes Teelöffelchen von
glänzendem, halbdunklem Gelee.
Glitschig. Giftig. Quallenkörpertrüb.
Tollkirschenglatt gespannte Haut.
Schwärzlich fein geäderte
schildbuckelig gewölbte
Schlangensülze. Mustert sachte,
was vor ihr steht, am Bühnenrand:

Ein Wesen mit Haube. Kulissenklotz,
hölzern mit aufgeklappter Schulter
und hohlem Bauch. Drinnen äugelt,
sonnenstrahlbewimpert, ein schüchternes
Gekringel. Erschauernd vor dem
Schattengefieder vorn an der Rampe.
Scheu abgekehrt vom Wasser, das
die Bühnenmitte ganz ausfüllt:

Bis zur Tiefe, zum schlürfenden
Mauersaum-Schlundauge, über dem
sich babylonisch die Etagen türmen.
Flaschenhalsfelsen mit vorspitzender
Monstranz. Abgezweigtes Bukett mit
Lederstachelblättern. Burgruine mit Bullauge.

Himmlisch von da der Ausblick ins körnig
gefleckt gesprenkelte Flimmergeleuchte:
ins eingefurchte Stirngefältel der Luft,
konzentrisch enger und enger gezogen

um den blanken Bildboden, das
vorgespiegelte Auge der Sonne.

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

    

Caspar Walter Rauh: Auge unterwegs (1953)
Caspar Walter Rauh: Auge unterwegs (1953)

 

2

nocturno

 

Es tut gar nicht so weh. Zugefroren
lieg ich still und eben da und lass es zu,
dass diese Wichte auf mir hingleiten,

in Schuhen mit Eisenkufen,
mit messerbewehrten Füßen
säbelfeine Pirouetten drehen,


Schleifenmuster tätowieren in die
weiß beflockte Epidermis. Aufgeschürftes
Frostblut mischt sich mit verwischtem Schnee.

Und über mir Rauch von gedrechselten
Kerzen. Sprühendes Geknister von
Aureolen, die ein Fest anzeigen:

In leeren Türmen residieren Geister,
hochwohlgeborene. Recken sich knackend,
parlieren mit gedämpften Stimmen.

Tadellos aufgerichtet: so sitzen sie
beim Nachtmahl, distinguierte Skelette,
und spießen Gabeln in den Staub.

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

    

Caspar Walter Rauh: Nocturno (1963)
Caspar Walter Rauh: Nocturno (1963)

 

3

nature morte

 

Die wievielte Welt liegt hier erschlagen?

Es biegt sich die Tischplatte. Die Drachenfüße,
die eisernen, ächzen. Tragen das alles kaum.

Krallen sich fest mit Gekreisch auf dem
trockenen Schachbrett-Fliesenboden.
Vormals wogte hier eine Flut.

Unter der Erdtafel hindurch schwamm
wild peitschend raffzähnig flink
die Urzeit-Riesenschlange, die gestern
abgeschlachtet jetzt planlos in Stücken

aufgeschichtet alle Maße sprengt. Es gähnt
ein Knochenfeld. Schuppengestrüpp. Links oben
Gucklöcher. Ein Degen spitzt heraus mit
verkrustetem Blut. Ringsum Insektenbäuche.
Schneckenohren. Fossilisches Gefranse.

Alles aus diesem Schlangenleben gequollen!
Reste von Myriaden Leibern. Zacken. Kanten.
Korallisches Gewoge. Verblichene Farben.
Schreiende Echos. Und alles tot! Was hörst du?

Keinen Atem. Nichts. Jetzt alles.
Nichts, außer was im Gewölbe der Ohren
an Erinnerung klopft und sticht.

Hoher feiner Ton von Jenen, die es
seit gestern nicht mehr gibt. Unbarmherzig

der Fluch des überlebenden Gedächtnisses.

 

copyright by michael herrschel (gema-nr. 704152)

    

Caspar Walter Rauh: Nature morte (1965)
Caspar Walter Rauh: Nature morte (1965)

  

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